In der Volksschule schon Englisch und Französisch gelernt
Lebenserinnerungen können eine faszinierende Lektüre sein. Jedenfalls wenn man sich ansieht, was die 1868 geborene Henny Böger im hohen Alter aus der Erinnerung aufgeschrieben und so ihrer Nachwelt hinterlassen hatte. Erwin Jürgens aus Stollhamm berichtete darüber beim Heimatkundlichen Klönabend. Es sind in erster Linie kleine Episoden, die aber sehr eindringlich die Zeitumstände und das Leben der Menschen auf dem Lande widerspiegeln.
Henny Böger, geborene Wiefelstede, wuchs auf der zum „Ummenschen Fundus“ gehörenden Hofstelle in Moorsee auf, die ihr Vater Jürgen Wiefelstede gepachtet hatte. Ihre frühesten Erinnerungen reichen zurück in die Schulzeit, die sie in Abbehausen verbrachte. Unterricht war vormittags von 8 bis 12 Uhr und nachmittags von 14 bis 16 Uhr. Während die Dorfkinder mittags zum Essen nach Hause gingen, mussten die Auswärtigen ihre Butterbrote und Getränke mitbringen. Die Flaschen konnten sie zum Warmhalten auf den Schulofen stellen.
Die Abbehauser Schule war eine „erweiterte Volksschule“ und stand in einem guten Ruf. Selbst die Kinder der Amtleute in Ellwürden gingen nicht auf eine höhere Schule, sondern blieben in Abbehausen. Zum Lehrplan gehörte hier auch Unterricht in Englisch und Französisch, die Teilnahme daran war allerdings freiwillig. In bester Erinnerung blieb ihr der Schulleiter „Koster“ Hinrichs. Er hatte wohl ein gutes Verhältnis zu den Kindern und wusste sich bei ihnen beliebt zu machen. Wenn in Abbehausen Markt war, dann spendierte er seinen Kindern eine große Tüte voll Schmalzkuchen. Und zweimal im Jahr gab es auch Bonbons, nämlich dann, wenn die Kinder ihr Schulgeld, jeweils einen Taler bezahlt hatten.
Henny Böger erinnert sich auch, dass die Leistungen der Schüler am Ende der Schulzeit öffentlich unter Beweis gestellt wurden. Die Eltern und der Schulausschuss waren dazu eingeladen. Die Hefte mit den Arbeiten aller Kinder lagen zu Einsicht bereit und in jedes einzelne Fach wurde mündlich durchgenommen. Besonderer Höhepunkt aber war das Deklamieren der auswendig gelernten Gedichte.
Geburtstagsfeiern waren für die Kinder auch damals etwas Besonderes. Das übliche Getränk war süßer Kaffee und dazu gab es meistens Kaffeebrot, Korinthenstuten, Kekse und zum Abschluss einen kalten Pudding, der in Tassen gefüllt und dann umgestürzt worden war. Wenn dann noch etwas süßer Saft darüber gegossen wurde, freute man sich „wie ein Stint“, berichtet Henny Böger.
Zu der Zeit sei es bei den Mädchen auch in Mode gekommen, Ohrringe zu tragen. Für das Stechen der Löcher war der Schuster Peters in Abbehausen zuständig. Zunächst musste das Ohrläppchen tüchtig warm gerieben werden, dann hielt Peters einen Korken hinter das Ohr und stach mit einer spitzen Nadel hindurch. Das tat tüchtig weh, erinnerte sich Henny Böger, „awer Hoffahrt mutt Pien lieden“ (Schönheit muss leiden).
In ihrer Jugendzeit, so schreibt Henny Böger, gab es erst wenige gepflasterte Straßen in Butjadingen – und die waren gebührenpflichtig. In regelmäßigen Abständen befanden sich die Zollstationen, wo die Benutzer ihr „Chausseegeld“ entrichten mussten. Die Zollbäume waren verpachtet, und befanden sich meistens in der Nähe einer Gastwirtschaft. Nach Eintritt der Dunkelheit, wenn kein Verkehr mehr erwartet wurde, gab man den Weg frei. Die Pächter mussten für ihre Aufgabe viel Lust mitbringen, meinte Henny Böger, weil sie immer wieder zum Kassieren zur Straße laufen mussten.
Wer abseits dieser „Chausseen“ lebte, benutze die berüchtigten Kleiwege. In trockenen Zeiten war das kein Problem, aber wenn der Winter nahte und die Wege aufweichten, dann versackten die Fahrzeuge oft bis an die Achsen im Schlamm. Da das Dreschen des Getreides Winterarbeit war, musste das gedroschene Korn auch zu dieser Jahreszeit abgeliefert werden. Von Moorsee wurde die Frucht nach Großensiel zu den Getreidehändlern Martens und Schrage gebracht. Dann wurden meistens vier Pferde vor den Wagen gespannt, um mit dem Gespann überhaupt die feste Straße zu erreichen.
Auch das Ausfahren mit der Kutsche bereitete bei den tiefgründigen Wegen kein Vergnügen mehr. Die leichten Fahrzeuge fristeten nun in einem abgelegenen Winkel ihr Dasein. Wo wenig Platz auf dem Hof war, da wurden sogar die Räder abgenommen und dann der ganze Wagen unter den Boden gezogen.
Setzte allerdings Frost ein und fiel dann auch noch Schnee, dann wurden die großen breiten Pflugschlitten hervorgeholt. Mit Stroh und speziellen Wagenstühlen ausgestattet ging es dann mit zwei Pferden davor durch die Winterlandschaft. Viele Bauern hatten zu der Zeit aber auch feine Schlitten zum Ausfahren mit schönem Klingelgeschirr. Das Schlittenfahren bereitete immer besonderes Vergnügen, besonders wenn der Knecht die Kinder damit zur Schule brachte.
Stand kein Fahrzeug zur Verfügung wurden die Menschen auch vor langen Fußmärschen nicht bange. Zum Theaterabend vom Rahden nach Waddens und das im Winter bei nassen Schneewetter, das trauten sich selbst noch ältere Menschen ohne weiteres zu – einschließlich Rückweg. Jedenfalls klingt es in den Erinnerungen der Henny Böger nicht so, als habe man das als besondere Strapaze empfunden.
Solche Theatergesellschaften zogen zur der Zeit überall durch die Lande und gaben in den Dorfwirtschaften ihre Gastspiele. Für die Menschen war es stets eine willkommene Abwechslung, denn „richtiges“ Theater gab es sonst nur in den großen Städten – und die waren für die Bevölkerung Butjadingens (fast) unerreichbar.
Einfach ging es in früheren Zeiten zu, wenn man sich gegenseitig besuchte. Dabei waren Besuche unter Nachbarn, Verwandten und befreundeten Familien sehr beliebt. Vorzugsweise fanden sie im Winter statt, weil man dann mehr Zeit hatte. Meistens wurde ein Dienstjunge geschickt, der die Einladung überbrachte.
War der Termin gekommen, stellte man sich am Nachmittag gegen ½ vier Uhr ein. Kamen die Besucher zu Fuß und es war nass, dann musste zuerst das Schuhwerk mit einem Besen grob gereinigt werden. Die Männer ließen ihre zum Schutz aufgekrempelten Hosen herunter. Die Damen ordneten gleichfalls ihre aufgebundenen langen Röcke und setzten die kleinen weißen Spitzenhäubchen auf.
Zu trinken gab es „extra guten“ Kaffee, dazu reichte die Hausfrau Schmalznüsse und krossen Sandkuchen. Und außerdem gab es das Butjenter Kaffeebrot, eine Art Zwieback, der besonders gut schmeckte, wenn er „reformiert“ war, das bedeutete, wenn es mit Butter, Zimt und Zucker verfeinert war. Torten gab es bei einfachen Besuchen nicht, sondern nur bei großen Festlichkeiten wie auf Hochzeiten und bei Kindtaufen, und bei Beerdigungen aß man auch Butterkuchen.
Bei lebhaften Gesprächen verging die Zeit rasch. Nach dem Kaffeetrinken steckten sich dann die Männer eine Zigarre an und gingen in den Stall, um das Vieh zu mustern. Gelegentlich musste der Großknecht dann auch schon mal die wertvollsten Tiere vorführen. Auch die Frauen vertraten sich die Beine. Da sie in der Wirtschaft meistens für die Aufzucht der Kälber zuständig waren, führte der Weg der Damen immer auch durch den Kälberstall.
Nach der Besichtigung trafen sich alle in der Stube wieder, wo im milden Schein der Petroleumlampe weiter geredet wurde, wobei die Frauen nun ihre Handarbeit heraus nahmen. Jetzt wurde auch Grog oder Eierlikör gereicht und dazu kleine Schalen mit Trockenobst auf den Tisch gestellt.
Gegen acht Uhr wurde dann Abendbrot gegessen. Es gab Tee und Butterbrot und als Auflage das, was die eigene Räucherkammer hergab: feine Servelatwurst, rosigen Schinken und andere Wurstsorten, dazu gab es selbstgemachten Dauerkäse und auch an Eiern wurde nicht gespart. Unter Brot verstand man das fein geschnittene Schwarzbrot und Zwieback. Feinbrot, so berichtet Henny Böger, war selten im Hause. Nur gelegentlich wurde auch mal extra etwas Weißbrot oder Stuten vom Bäcker besorgt.
Nachdem sich nun die ganze Gesellschaft genügend gestärkt hatte, war es Zeit, an den Aufbruch zu denken. Alle mussten sich nun für den Fußmarsch wieder herrichten und dann machte man sich wieder auf den Weg. In dunklen Nächten war es nun ratsam, etwas Licht dabei zu haben,. Henny Böger erwähnt hier eine runde Leuchte aus Messing, die ganz ineinander zu schieben war und in der Manteltasche Platz fand. Ohne Licht war es schwer, seinen Weg zu finden.
Unvergesslich sind Henny Böger auch die Märkte jener Zeit geblieben. Sie waren nicht nur zum Vergnügen sondern spielten auch für die Versorgung der Menschen mit lebensnotwendigen Gütern eine wichtige Rolle. Eine besondere Rolle spielten dabei wohl die Märkte in Blexen, Abbehausen und Burhave. Aber sie alle wurden in ihrer Bedeutung und Anziehungskraft übertroffen von Rodenkirchener Markt.
Bereits in ihrer Kinderzeit war der Marktplatz mit Ziegelsteinen befestigt worden und am Rade des Platzes entstanden nacheinander die drei großen Hallen. Das waren natürlich keine Markthallen, sondern wiesen Rodenkirchen als Zentrum der Nordoldenburger Pferdezucht. Henny Böger erinnert sich, dass während des Marktes in zwei der Gebäude immer „Tingeltangel“ geboten wurde während in der dritten Oldenburger Geschäfte ihre Waren bereithielten.
Sonntags fuhren ihre Eltern meistens zum Markt, um Flachs zu kaufen und beschädigtes Zinngeschirr zu tauschen. Das konnte nämlich wieder eingeschmolzen und neu verarbeitet werden. Allerdings kam es zu der Zeit langsam aus der Mode. Und als die Großmutter der ältesten Schwester von Henny zur ihrer Hochzeit ein Dutzend Zinnteller schenkte, da wurden die schon gar nicht mehr benutzt. „Sie standen nur blank gescheuert im Tellerbord“, schreibt Henny Böger.
Der Montag war der Haupttag. Dann fuhr die Familie bald nach Mittag mit dem Gespann los und Henny wundert sich noch Jahrzehnte später über den Verkehr auf den Straßen. Wagen an Wagen bewegten sich die Kolonnen in Richtung Rodenkirchen. Sie selbst konnten bei Bekannten in Strohausen ausspannen. Den Rest ging man zu Fuß. Dann genoss man das bunte Markttreiben und freute sich, wenn einem alte Bekannte über den Weg liefen.
Ein solcher Ausflug machte hungrig. Für viele war es ein besonderes Vergnügen, abends in Schmedes Hotel einzukehren. Dort wurde nicht nur getanzt, sondern hier befand sich auch ein großer Esssaal. Überall wurden halbe Enten verzehrt, das war eine Portion, die sich zur Not auch zwei Personen teilen konnten. Dazu trank man eine halbe Flasche Wein. Danach stürzte man sich wieder ins Marktgetümmel. Nach Hause fuhr man erst gegen Morgen. Der Kutscher hatte seine Mühe, die Augen offen zu halten, dann war es gut, wenn die Pferde den Weg allein kannten.
Am Dienstag war der Tag für die Dienstboten. Sie wurden bereits vormittags mit dem Wagen hingefahren. Dann gab es zu Mittag in den Sudelzelten Buskohl mit Schaffleisch. Am Mittwoch feierten die Rodenkirchener selbst und diejenigen, die in der nächsten Umgebung wohnten.
Wenn der Markt vorüber war, änderten sich auch die Lebensgewohnheiten auf den Höfen: Fortan entfiel die Mittagsstunde und Abendbrot wurde bereits um acht Uhr gegessen.
Hans-Rudolf Mengers
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