Ein ganzes Leben auf Kalenderblättern
Als Hulda Bräuniger 1940 von ihrem Enkelsohn einen dicken Kalender geschenkt bekam, begann sie hierin ihr ganzes bisheriges Leben aufzuzeichnen. Und sie vertraute ihm auch noch die Erfahrungen der nachfolgenden schlimmen Zeiten an bis kurz vor ihrem Tode 1946. Franz Räcker, Mitarbeiter im Rüstringer Archiv, hat die in deutscher Schrift verfassten Aufzeichnungen komplett abgeschrieben. 170 Seiten umfassen diese Lebenserinnerungen, über die er jetzt beim heimatkundlichen Klönabend berichtete.
Hulda Bräuniger kamen als drittes von insgesamt acht Kindern 1867 in Zanow, einem Ort in der Nähe von Köslin in der preußischen Provinz Pommern auf die Welt. Sechs Jahre lang besuchte sie dort die Schule, arbeitete mit 12 Jahren in einer Streichholzfabrik und nahm vier Jahre später eine Stelle in einem Pastorenhaushalt in Paretz an der Havel an. Wegen einer Erkrankung der Hausfrau war sie zunächst mit der Erziehung der drei Kinder und dann schließlich mit der gesamten Haushaltsführung beauftragt.
Zu einem besonderen Erlebnis wird für sie das Weihnachtsfest 1888. Der junge deutsche Kaiser Wilhelm II. hält sich mit seiner Familie dort auf dem Schloss auf und nimmt am 3. Weihnachtstag die Huldigung und Geschenke der Honoratioren des Ortes entgegen. Für den Dorfpfarrer überreicht die „Mamsell Hulda“ dem Kaiser gemeinsam mit den Kindern selbstgebackene Nusskipferl. Voller Stolz berichtet sie von den lobenden Worten Seiner Hoheit. Als Dank habe sie noch einen Krönungstaler von 1861 erhalten, den sie dann lange Zeit mit sich getragen habe.
In den nächsten Jahren arbeitet sie in verschiedenen Häusern und lernt auch ihren späteren Mann, August Bräuniger, kennen. Er ist Kellner in einem Restaurant und nach der Hochzeit eröffnen sie in Stettin ein eigenes Lokal, dass sie aber später wieder aufgeben. Fünf Kinder werden inzwischen geboren, vier Söhne und eine Tochter. Sie ist der Mittelpunkt einer großen, glücklichen Familie.
Mit dem Ersten Weltkrieg aber schien sie das Glück verlassen zu haben. Zwei Söhne fielen im Krieg, ihre Tochter verstarb durch einem Badeunfall, 1932 starb ihr Mann, ein weiterer Sohn galt als verschollen und schließlich starb 1937 auch ihr ältester Sohn. Ihr blieben allein dessen drei Kinder, ihre Enkel, die Sie nun liebevoll umsorgte. Aber auch jetzt meinte der Schicksale es nicht gut mit Hulda Bräuniger: die beiden Enkelsöhne fielen im 2. Weltkrieg und ihre Enkeltochter verlor sie aus den Augen.
Als im März 1945 Stettin vor der anrücken den roten Front evakuiert werden sollte, machte sich die inzwischen 78-Jährige allein ohne Angehörige auf den Weg ins Ungewisse. Mit einem der letzten Züge verließ sie am 8. März ihre Heimatstadt. Nach viertägiger Fahrt erreichte sie schließlich am 11. März, ihrem Geburtstag, ihren Bestimmungsort Burhave. Sie betrachtet ihre neue Heimat sehr intensiv und versucht, sich hier einzugewöhnen. Eine große Hilfe ist ihr dabei die Familie Neumann, wo sie Aufnahme gefunden hat. Sie schreibt, wie gut sie es getroffen hat, und wie liebevoll ihre Wirtsleute sie umsorgen.
Aber trotzdem gelang es ihr nur sehr mühsam, die schweren Schicksalsschläge, die sie ertragen musste, zu verwinden. Ihr Lebenswille war gebrochen, und ihrem Tagebuch vertraute sie an, dass sie lebensmüde sei und oft an Selbstmord denke. Noch einmal zog sie um, in das Altersheim an der Bahnhofstraße. Dort starb sie dann wenig später am 10. Dezember 1946.
Hulda Bräuniger ist ein erschütterndes Beispiel dafür, wie die beiden großen Kriege das Schicksal der Menschen bestimmte, sie entwurzelte, ihnen Glück und Heimat nahm und am Ende mitgebrochenen Herzen zurückließ. Es sei ein Glücksfall für die Nachwelt, betonte der Referent, dass diese Aufzeichnungen erhalten blieben und am Ende im Archiv des Rüstringer Heimatbundes gesichert werden konnten.
Hans-Rudolf Mengers
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