Die heimische Seide wurde zu Fallschirmen verarbeitet
Auch in Butjadingen und Stadland wurde in früheren Zeiten Seide gewonnen. Diese Aussage traf Philipp Fürst aus Rodenkirchen einmal beim heimatkundlichen Klönabend und überraschte damit selbst so manchen alten Heimatkundler. Allerdings sind die Erkenntnisse über den Umfang und die Art und Weise der Herstellung und noch sehr lückenhaft.
Während seiner Schulzeit habe er nichts davon mitbekommen, sagte Philipp Fürst. Aber als er 1968 nach Strohausen gekommen sei, machte er dort die Bekanntschaft mit dem Maulbeerbaum. Nachbarn berichteten ihm dazu, dass hier im Kriege auch Seide gewonnen worden sei. Genaueres aber habe er auch nicht erfahren können.
Etwas exotisch mutet die Vorstellung von der Seidengewinnung an der Nordseeküste schon an, denn die Gewinnung und Verarbeitung der Seidenfaser stammt ursprünglich aus China. Jahrtausende lang hüteten die Chinesen ihr Wissen wie ein Staatsgeheimnis. Erst nach der Zeitenwende gelang es, das Monopol zu brechen und auch außerhalb Chinas Seide zu erzeugen. In Japan, Persien und im Oströmischen Reich erlangte daraufhin die Seidenherstellung große Bedeutung.
Dabei ist Seide eigentlich nichts anderes als das Speicheldrüsensekret der Raupe des Chinesischen Maulbeerseidenspinners. Die Raupe ist zum Zeitpunkt ihrer Verpuppung im Stande, mit einer Geschwindigkeit von 10 m in der Stunde einen Faden von 800 m Länge zu spinnen, in den sie sich einwickelt. Bei der Seidengewinnung wird nun die Larve abgetötet und der Faden wieder aufgenommen. Gesponnen und gewebt wird dann daraus die Seide.
Seidenraupen sind nicht nur sehr gefräßig, sondern sie sind auch ausgesprochene Nahrungsspezialisten. Sie ernähren sich ausschließlich von frischen Blättern des Weißen Maulbeerbaums. Während ihres vierwöchigen Daseins vom Schlüpfen bis zur Verpuppung nimmt ihr Gewicht um das 12.000fache zu. Für ein Kleid benötigt man ein halbes Kilogramm Seide, die von etwa 1700 Kokons gewonnen wird. Zuvor haben die Raupen etwa 60 kg Blätter verzehrt.
Die Menschen schätzten immer schon die angenehmen Eigenschaften dieser Naturfaser. Seide ist sehr leicht und formbeständig und ihre Oberfläche schimmert und glänzt. So wirkt das Gewebe sehr elegant und schön. Es lässt sich aber auch gut einfärben und ist zudem äußerst reißfest. Ein Tau aus Seide kann größere Gewichte tragen als ein Metallkabel von gleicher Stärke. Kein Wunder also, dass die Seide über Jahrtausende hinweg eine kostbare Handelsware blieb. Es heißt, im alten Rom wurde Seide sogar mit Gold aufgewogen.
Nachdem im 13. und 14 Jahrhundert Italien und Frankreich einige Bedeutung in der Raupenzucht und Seidenherstellung erlangten, gab es später auch in Deutschland ähnliche Versuche. Insbesondere Friedrich II. von Preußen unternahm große Anstrengungen auf diesem Gebiet. Während die Einfuhr der Ware strikt verboten war, erfuhr die einheimische Produktion bedeutende Förderungen. Wer 1000 Maulbeerbäume pflanzte erhielt 50 Taler Prämie.
Eine blühendes Unternehmen ist allerdings nicht daraus geworden und um die Mitte des 19. Jahrhunderts kam die Seidenherstellung in Deutschland wieder zum Erliegen, nachdem die fast alle Bestände des Seidenspinners einer Infektionskrankheit zu Opfer gefallen waren. Erst in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts gewann die Produktion der edlen Faser in Deutschland wieder an Bedeutung, da sie wegen ihrer Festigkeit für die Herstellung von Fallschirmen dringend benötigt wurde.
So wussten denn manche Teilnehmer des Klönabends auch von Anpflanzungen des Maulbeerbaums in Butjadingen und Stadland zu berichten. Völlig unklar blieb aber noch, in welchem Umfang Raupen gezüchtet wurden und wie man am Ende die begehrte Seide aus den Kokons gewann. Allerdings fanden sich in der Folgezeit mehrere Zeitzeugen bei Philipp Fürst ein, um von ihren Erfahrungen zu berichten.
Eine wichtige Erkenntnis war zunächst, dass die Seidengewinnung sicher keine „Erfindung“ der Nationalsozialisten war, wie er zunächst vermutet habe, da es sie auch schon in den Jahren der Weimarer Zeit gegeben habe. Man könne aber sagen, dass die Nationalsozialisten sich sehr wohl um größere Effektivität bemühten.
Zu den gleichen Einsichten gelangte auch Karl-Heinz Osterloh aus Ruhwarden. Er berichtete von verschiedenen Verordnungen aus dieser Zeit. Besonders in den späten dreißiger Jahren war es das Reichskriegsministerium, das mit großem Interesse die Fortschritte bei der Seidengewinnung verfolgte. Schließlich war dieses Naturprodukt nahezu unentbehrlich für die Herstellung von Fallschirmen, Isoliermitteln, feinsten Sieben und Nähfäden in der Chirurgie.
Deshalb stand der Seidenbau unter dem besonderen staatlichen Schutz. In großen Mengen bezogen Interessierte die Maulbeersträucher, den „Brotbaum“ der Seidenraupen, zu günstigen Bedingungen direkt aus Berlin. Bei der Anpflanzung sollte darauf geachtet werden, dass dafür nur für die Landwirtschaft ungenutzte Flächen genommen wurden. Besonders empfohlen wurden Anpflanzungen als Einfriedigung bei Kasernen und Übungsplätzen, bei Schulen, Heimen und Anstalten.
Wenn die Büsche nach einigen Jahren herangewachsen waren, lieferten sie genügend Futter für die gefräßigen Seidenraupen. Das Pflücken der jungen Blätter war eine ebenso einfache wie aufwendige Arbeit. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, dass auch schwache Personen diese leichte Arbeit verrichten konnten. Man dachte dabei besonders an Kriegsversehrte, Werksinvaliden und Frauen. Oft wurden aber auch ältere Schulkinder zu den Arbeiten herangezogen, wie auch einige Teilnehmer des Klönabends versicherten.
Die Lieferung der Seidenspinnerbrut erfolgte kostenlos durch die Mitteldeutsche Spinnhütte in Celle. Auf ein Gramm kommen ungefähr 1200 Eier. Aus diesen Winzlingen entwickelt sich in etwa 35 Tagen eine 9 cm lange Raupe, die sich dann verpuppt. Allerdings musste der Seidenbauer stets sehr sorgsam sein, denn Seidenraupen sind empfindliche Wesen und stellen hohe Anforderungen an die Umgebungstemperatur und Luftfeuchtigkeit. Und trotz aller Vorsicht können Krankheiten die ganze Arbeit zunichte machen.
Für den Seidenbauer war mit der Verpuppung die Arbeit beendet. Die weitere Bearbeitung, insbesondere das Abwickeln der Kokons wurde nun industriell betrieben. Alleinige Ankaufsstelle für alle im Inland erzeugten Kokons war wieder die Spinnhütte in Celle. Auch die in der Wesermarsch erzeugten Kokons wurden zumeist mit der Bahn in Körben oder Säcken dorthin befördert. Hier wurden dann die Kokons abgehaspelt, wobei man den wertvollen etwa 800 m langen Seidenfaden erhielt, der dann der weiteren Verarbeitung zugeführt wurde.
Aber Seide war nicht das einzige Produkt, das man aus den Kokons gewann. Von 100 kg Trockenkokons erhielt man etwa 30 kg Seide, weitere 10 kg Abfallseide und 60 kg Puppenmasse. Die wurde entölt und geschrotet. Daraus erhielt man wiederum 15 kg Öl, das in der Seifenherstellung Verwendung fand, und 45 kg Schrot für Geflügelfutter.
Für die damaligen Machthaber stand damit außer Zweifel, dass der Seidenbau einen vielseitigen Nutzen brachte. Man wünschte sich deshalb eine verstärkte Entwicklung dieses Zweiges der deutschen Kleintierzucht. Allerdings gingen die Hoffnungen nicht in Erfüllung. Nach einer kurzen Blütezeit brach nach dem Kriege auch der Seidenbau in Deutschland wieder zusammen.
Hans-Rudolf Mengers
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