Das Fahrrad ermöglichte den Genuß von Geschwindigkeit
„Demjenigen, welcher das Fahrrad erfunden hat, gebührt der Dank der ganzen Menschheit“, formulierte um die Jahrhundertwende ein englischer Lord, angesichts der großen Bedeutung dieses praktischen und billigen Verkehrsmittels. Allerdings war zu der Zeit schon ein volles Jahrhundert vergangen, seit die ersten Tüftler und Bastler sich dieser Sache angenommen hatten. Einen „Erfinder“ des Fahrrades gibt es nämlich nicht, dass machte einmal Werner Krull aus Oldenburg beim heimatkundlichen Klönabend des Rüstringer Heimatbunds deutlich.
In einem längeren Referat setzte sich Werner Krull ausführlich sowohl mit der Entwicklung des Fahrrades als auch mit dem Radfahren und dem Radfahrer-Vereinswesens im Oldenburger Land auseinander. Begünstigt durch seine geographische Lage in der norddeutschen Tiefebene waren hier ideale Voraussetzungen für die Benutzung des Fahrrades gegeben.
In dem Bestreben, den Mitmenschen die Fortbewegung zu erleichtern, waren schon vor dem Jahre 1800 die ersten Versuche mit „mechanische Fuhrwerken“ unternommen worden. Diese Apparate waren denkbar einfach und bestanden meist nur aus drei Teilen: zwei Rädern und einer hölzernen Verbindungsstange mit einem Sattel, „auf welchem der sich fahrende Mann reitend Platz nahm und sitzend durch Schieben, indem er sich abwechselnd mit einem Fuß um den anderen gegen den festen Boden stemmte, den Fortlauf bewirkte.“ Lenkung und Pedale waren noch nicht vorhanden.
Eine Verbesserung bedeutete die Konstruktion einer Lenkung durch den Forstmeisters Karl von Drais im Jahre 1817. Aber erst als um 1865 Fahrräder mit einer Tretkurbel am Vorderrad auftauchten, nahm das Interesse merklich zu. Jetzt wurde eine Fortbewegung möglich, ohne mit den Füßen den Boden zu berühren. Zwar hatte der sog. „Knochenerschütterer“ noch keine Federung, aber auf den überall entstandenen „Kunststraßen“ konnte von den stolzen Benutzern die Tauglichkeit des neuen Verkehrsmittels bewiesen werden. Um eine noch bessere Übersetzung zu erreichen, vergrößerten die Konstrukteure das Vorderrad – das Hochrad war geboren.
Allerdings eignete sich das Hochrad nur für sehr sportliche Menschen. Zudem war es sehr unfallträchtig. Trotzdem erfuhr es eine weite Verbreitung und blieb bis zum Ende der 80er Jahre das Standardfahrrad. Die Bemühungen der Konstrukteure aber waren auf ein sicheres und billiges Fahrrad gerichtet. Diese Sicherheitsräder (Niederrad) mit Tretkurbel, Kettenantrieb kamen um 1890 auf den Markt. Mit ihnen erlebte die Verbreitung des Fahrrades einen ungeheuren Aufschwung.
Das Fahrradfahren entwickelte sich nun auch in und um Oldenburg zu einem Massenphänomen. Es ermöglichte seinem glücklichen Besitzer einen ganz neuartigen Genuß von Geschwindigkeit, Freiheit und Mobilität, wobei es sich als ein einfaches und preiswertes Verkehrsmittel erwies. Sehr anschaulich beschreibt das der in Oldenburg aufgewachsene Philosoph Karl Jaspers in seinen Erinnerungen an sein erstes Fahrrad, das er als Junge von seinem Vater geschenkt bekommen hat:
„Mit dem Besitz des Rades aber eröffnete sich nun vor allem eine neue Welt. Ich fühlte mich, als ob ich aus einem Käfig entronnen wäre, den ich gar nicht bemerkt hatte. Überallhin war auf die einfachste Weise zu kommen. Nachmittags nach der Schule fuhren wir noch vor die Stadt, etwa 15 Kilometer weit zu einem Krug jenseits Donnerschwee, in Gegenden, wo ich früher nie gewesen war. Das Land wurde entdeckt. Jede Minute, die frei war, wurde auf dem Rad verbracht.“
Die stolzen Besitzer der Velocipeden erregten mit ihren sonderbaren Gefährten nicht nur Staunen und Bewunderung bei ihren Mitmenschen sondern auch Verängstigung und Unwillen. Kam es doch häufig vor, dass auf Bürgersteigen und in Grünanlagen gefahren wurde, so dass sich die Fußgänger oftmals belästigt fühlten. Auch die Fuhrleute standen diesen neuen Verkehrsteilnehmern eher feindselig gegenüber, weil durch Vorbeifahren an den Fuhrwerken die Pferde häufig irritiert wurden und dadurch so manches Mal scheuten.
Bereits 1880 sah sich der Magistrat der Stadt Oldenburg genötigt, ein Verbot des Fahrens auf den Bürgersteigen erlassen. 1886 gab dann das Oldenburgische Staatsministerium eine erste Verordnung „betreffend das Fahren mit Velocipeden“ heraus. Weitere Vorschriften erfolgten 1895 und 1907. Mit dieser letzten Verordnung wurde auch der „Ausweis über die Person des Radfahrers“ vorgeschrieben. Sie besagte, dass jeder Radfahrer eine auf seinem Namen lautende Karte bei sich zu führen habe. Diese sollte vom jeweiligen Gemeindevorsteher „unter Verwendung von auf Leinwand gezogenem Papier kostenfrei“ ausgestellt werden.
Vorgeschrieben war für Fahrräder nun auch, dass bei starkem Nebel oder nach eingetretener Dunkelheit eine hell brennende Laterne, deren Licht unbehindert nach vorn zu fallen hatte, vorhanden sein musste. Es benötigte eine sicher wirkende „Hemmvorrichtung“ (Bremse) und schließlich eine „helltönende Glocke zum Abgeben von Warnungszeichen“.
Mit der Fortentwicklung und Verbreitung des Fahrrades ging auch die Gründung der Radfahrervereine einher. Nicht nur in Oldenburg sondern auch in vielen Dörfern entstanden in dieser Zeit solche Vereinigungen. Allein im Jahre 1897 gab hier drei solche Gründungen, nämlich in Atens, Nordenham und Burhave, während ähnliche Versuche in Ruhwarden (1888) und Waddens (1899) offensichtlich erfolglos blieben.
Der Radfahrverein „Blitz“ in Burhave entwickelte gleich in seinem Gründungsjahr 1897 ein reges Vereinsleben. Zum Stiftungsfest im Juli wurde ein großes Programm veranstaltet. Es gab Straßenrennen über 22 km für Rennfahrer und über vier Kilometer für die Damen. Eine weitere Disziplin, die sicherlich viel Freude bereitet haben dürfte, war das Langsamfahren über 200 Meter: Sieger wurde, wer als letzter durchs Ziel kam, ohne Bodenberührung gehabt zu haben. Das gelang einem gewissem Lindemann aus Stollhamm, der sich genau 11 Minuten und 25 Sekunden im Sattel halten konnte. Sein Preis: eine Schreibgarnitur.
Nach den um die Jahrhundertwende im Herzogtum Oldenburg durchgeführten Erhebungen war die Zahl der hier in Gebrauch befindlichen Fahrräder bereits beträchtlich angestiegen, allein in der Stadt Oldenburg auf nahezu 1200 Räder. Es gewann nun auch für viele Berufstätige zunehmend als zeitsparendes und billiges Verkehrsmittel für deren Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte an Bedeutung.
Auch im Dienstgebrauch eroberte sich das Fahrrad seinen festen Platz. Werner Krull belegte dies mit einigen Zahlen aus dem Tätigkeitsbereich des oldenburgischen GendarmerieKorps. Im Jahre 1897 wurden von den insgesamt 75 beteiligten Gendarmen 11.608 km auf dem Fahrrad gegenüber 92.464 km zu Pferde, 189.472 km zu Fuß und 130.075 km mit der Eisenbahn zurückgelegt. 1903 verändern sich diese Zahlen bei 86 Gendarmen auf 132.130 Fahrradkilometer gegenüber 72.483 km zu Pferd, 120.654 km zu Fuß und 171.051 km mit der Eisenbahn gefahrenen Kilometern. Im Dienstjahr 1910 stand das Fahrrad als Transportmittel bereits an erster Stelle mit 250.791 Fahrkilometern.
Zuweilen mussten sich auch schon mal die Gerichte mit dem Fahrradwesen beschäftigen. So ging es in Hamburg bei der Frage, ob ein Rad an eine (fremde) Hauswand angelehnt werden dürfe, gleich durch drei Instanzen. Schließlich wurde entschieden, dass das Rechtens sei. Begründung: „Ein Fahrrad mit dem Pedal auf dem Bordstein stört den Verkehr wesentlich mehr, ganz abgesehen davon, dass es eine besondere Kunst ist, das Gleichgewicht der Maschine herzustellen.“ Der ursprünglich mit einer Strafe von zwei Mark belegte Angeklagte wurde höchstrichterlich freigesprochen.
Hans-Rudolf Mengers
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